Das Abc-Advent-Event (M – S)

M – Minus-Aura
Wer das Wort „Aura“ oder „Minus-Aura“ noch nie gehört hat, gehört wohl zu den 90% der Bevölkerung, die nichtmehr unter den Begriff der „Jungend“ fallen, ob sie es wollen oder nicht. Dabei ist das diesjährige Jugendwort des Jahres gar nicht so neu. Schon die alten Griechen benutzen das Wort „αὔρα“ als Bezeichnung eines Hauchs oder Brise.1 Doch mit der Zeit wandelte sich die Bedeutung des Begriffs zu einer Beschreibung der Ausstrahlung einer Person. Dieser Prozess ist kein Einzelfall. Oft hatten die Begriffe, welche wir in unserem Alltag ganz allgemein benutzen, früher die unterschiedlichsten Bedeutungen. In meiner Kindheit war z. B. das Wort „Geil“ bei den Erwachsenen sehr verpönt, während wir jungen dies eher als Synonym für „cool“ oder „großartig“ benutzten. Die Vorstellung, das heutzutage noch jemand für eine Aussagen wie „Boah, war das Konzert Geil“ getadelt wird, scheint unsinnig. Der Versuch, die Flexibilität der Sprache einzugrenzen, zu bestimmen oder nur zu erfassen ist wie seinen eigenem Schatten hinterherzujagen. Das Gendern ist in diesem Thema wohl das bekannteste Beispiel. Weder die Idee, mit Gewalt das Gendern in die Gesellschaft zu integrieren, noch das Gendern als Gegenreaktion zu verbieten, hatte Erfolg. Man könnte die Aktion Bayerns, das Gendern an Hochschulen im dienstlichen Schriftverkehr zu verbieten, also mit Recht als eine Aktion mit „Minus-Aura“ bezeichnen.
N – Nah-Ost-Konflikt
Vor 10 Jahren, als ich noch 15 Jahre alt war, erzählte mir meine politisch sehr aktive Schwester von einem Streit in ihrer Freundesgruppe. Dieser Streit hatte den Umgang Israels in Gaza zum Thema. Als Sie mich nach meiner Meinung fragte, zuckte ich nur mit den Schultern. „Ich kenne mich nicht mit dem Thema aus und sehe keinen Grund mich als ausenstehender einzumischen. Zudem glaube ich, dass ich nie die Notwendigkeit einer Meinung zu diesem Thema brauchen werde.“ Wie gerne ich doch recht behalten hätte. Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7.Oktober 2023 gab es keine andere Möglichkeit mehr. Die Medien in Deutschland strahlten 24/7 neue Informationen aus und auch in den Freundesgruppen gab es nur noch das eine Thema. Die eh schon hochkomplexe Situation verwandelte sich in einen Sumpf, in welchem Gut und Böse, Freund und Feind, Zivilist und Terrorist, Selbstverteidigung und Menschensrechtsverletzung unzertrennbar verschluckt wurden. Mein 15-jähriges Ich lag zwar falsch, dass man sich nicht über diesen Konflikt informieren sollte, aber zum ersten Punkt stehe ich noch immer. Ich kenne mich nicht aus und bin nicht in der Position eine Meinung zu äußern. Deshalb höre ich auch an diesem Punkt auf. Anstatt das ich, als Deutscher, meine eigene Sicht und Meinung zu diesem Thema diskutiere, sollten wir lieber jemand zuhören, der mit diesem Konflikt aufgewachsen ist. In seinem Artikel „my heart is so full with sadness“ argumentiert Itai Katz für einen Perspektivwechsel, in welchem die Zukunft der Kinder “beider” Seiten und nicht die Vergangenheit in den Mittelpunkt gestellt wird. Über solche Gemeinsamkeiten könnten Brücken der Versöhnung und des Mitgefühls geschlagen werden.
O – Opfergabe
In der Klimadebatte wird oft eine Opposition zwischen junger und alter Generation aufgebaut. Wer verbraucht mehr CO2 ? Wer isst mehr Fleisch ? Wer trägt die Verantwortung? Dabei wird von der älteren Seite oft auf die schweren Lasten hingewiesen, die sie auf sich nehmen mussten, damit wir als junge Generation überhaupt die Möglichkeit haben, uns zu beschweren. Sie opferten ihre Zeit, arbeiteten viel zu viel, mit dem Ziel der nächsten Generation ein besseres Leben zu ermöglichen. Aus dieser Perspektive ist es verständlich, dass man mit Verwunderung oder Unverständnis auf die Aufregung der jungen Leute reagiert. Doch gleichzeitig macht die junge Generation eine ganz neue Erfahrung. Die Gesellschaft, die wir während des Aufwachsens beobachteten, lebte im Überfluss, doch anstatt zu versuchen, mit diesem Überfluss Grundbedürfnisse aller Menschen zu decken, wurde dieser Überfluss auf ein paar wenige konzentriert. Zudem wurde die zerstörerische Kraft des Systems immer sichtbarer, ob gegen Natur oder andere Menschen, auf der unser Wohlstand aufgebaut ist. Dadurch entsteht eine schwierige Beziehung zu dem eigenen Wohlstand, der jedoch gleichzeitig hart von den Eltern erarbeitet wurde. Denn durch ihre Arbeit partizipierten sie an diesem System und ermöglichtem es diesem, sich etablieren zu können. Für manche ist es ein Weg damit umzugehen, diese Dinge als Opfergabe des eigenen moralischen Gewissens wegzugeben, sozusagen umzuverteilen. Dabei fällt man jedoch leicht in die Falle, die Opfer der Eltern, die ja nicht für das System allein verantwortlich sind, zu negieren. Wie also umgehen mit dem Erbe der älteren Generation?
P – Phänomenologie
Die Phänomenologie, ein Wort, das richtig auszusprechen etwas Übung bedarf, ist eine aus dem 20. Jahrhundert entstandene philosophische Richtung, die die Erfahrung wieder in den Mittelpunkt der Erkenntnis rückt. Denn schon mit Platon existiert die Theorie, dass die Inhalte der Erfahrung oft minderwertige Abschattung der Wirklichkeit sind.2 Und auch Kant, der mit seinen drei Kritiken der Vernunft die wohl einflussreichsten Werke der Philosophiegeschichte schrieb, sehnte es nach Urteilen „apriori“, sozusagen unabhängig der Erfahrung.3 Denn von der Erfahrung unabhängige Urteile ermöglichen einen unbedingten Allgemeinheitsanspruch, der heilige Gral der Philosophie. Die Phänomenologie, besonders mit ihrem Gründer Edmund Husserl, hat auch den Anspruch, allgemeine Aussagen zu treffen. Diese „Wesensschau“ soll jedoch durch unsere Erfahrung hindurch betrieben werden und auch nicht unabhängig von ihr sein. Phänomene sollen so analysiert werden, wie sie unmittelbar erlebt werden, frei von Verzerrungen durch vorgefasste theoretische Annahmen.
Warum ist die Phänomenologie ein wichtiger Begriff für Kontrapunkte? Wer sich auf unserer Seite schon etwas herumgetrieben hat, dem ist bestimmt aufgefallen, das viele Beiträge die Methode der Phänomenologie für sich beanspruchen, so z. B Kolonialität als Irresponsivität oder Wie zeigt sich „Mensch-Sein“?. Dies ist der Fall, da diese Methode es ermöglicht, blinde Flecken von allgemeinen Theorien aufzudecken. Theorien sind immer Abstraktion und folglich passiert es häufig, dass Sachverhalte vereinfacht oder nur aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. Doch in der Phänomenologie ist man sich den Phänomenen selbst verpflichtet. Somit beweist sich die Phänomenologie als gutes Werkzeug für jegliche Stimmen, die im allgemeinen Diskurs kein Gehör finden und als eine gute Tradition, solche Missstände aufzudecken.
Q – QAnon
Als der französische Philosoph Destutt de Tracy im 18. Jahrhundert die Theorie der Ideologie ins Leben rief, verstand er darunter die Wissenschaft der Untersuchung des menschlichen Verstandes und des Systems der Ideen.4 Nie hätte er sich wohl die heutige Bedeutung des Begriffs vorstellen können. Erstmal mit Marx gewann der Begriff der Ideologie die Bedeutung eines falschen Bewusstseins, das von einer herrschenden Klasse instrumentalisiert wird, um ihre Interessen und Machtposition zu sichern.5 Diese Bedeutung zieht sich bis in die heutige Zeit und als jüngsten Beispiel kann QAnon genannt werden. Erst 2017 entstand das Gerücht, das ein Whistleblower der amerikanischen Regierung namens “Q” interne Informationen auf bestimmen Internet-Plattformen veröffentliche. Es ist die Rede von mächtigen Eliten, die satanistische Rituale und Kinderhandel betreiben. Was absurd klingt, hat einen großen Einfluss für viele Menschen, was sogar schon zu gewalttätigen Verhalten geführt hat. Auch dass Trump im Narrativ dieser Verschwörungstheoretiker das Mandat des Retters übernommen hat, ist kein Zufall. Oft verbindet die verschiedensten Verschwörungstheorien Thematiken wie Kontrolle von oben, ein klares Feindbild und der Aufruf, endlich was zu ändern. Dies können Politiker:innen einfach für sich gewinnen und ausnutzen. Doch dabei werden die Strukturen, die erst diese Gefühle produzieren, nicht verändert, wodurch nur immer mehr Menschen sich in den Ideen der Ideologie verstricken. Es entsteht also die reale Gefahr, dass die Ideologie ihr eigenen Kinder frisst und dann völlig ungebändigt auf die Bühne der Macht tritt. Die ganze Welt blickt gespannt in die USA, um diesem Spiel der Macht zitternd zuzuschauen.
R – Rückkehr
Seitdem im Frühling 2023 die Corona-Pandemie als beendet verkündet wurde, begann ein neuer Abschnitt für viele Menschen. Die Rückkehr zur Normalität, zu einer Welt, wie vor der Pandemie. Die Geschäfte machten wieder auf, die Clubs sowie die Büros begannen sich zu füllen und der Alltag übernahm wieder die Kontrolle über das Leben von Millionen deutschen Bürger:innen. Doch obwohl der Übergang zur Normalität von vielen als fließend empfunden wurde, war es doch keine Rückkehr in dieselbe Welt. Viele Freundschaften litten stark unter den Ausgangsbeschränkungen und während manche wiederaufgebaut werden konnten, verloren sich andere für immer. Zudem sind besonders junge Menschen von psychischen Leiden betroffen. Kinder, die Jahre lang nicht in die Schule konnten und somit wichtige soziale Skills nie erlernten oder sich nie ein Freundeskreis aufbauen konnten, betraten die Schule wieder voller Angst und Unwissenheit. Junge Studierende, die in fremde Städte zogen, nur um die Hälfte ihres Bachelor-Studiums alleine in ihrem Zimmer zu sitzen, fanden sich das erste mal an einer Universität, an der sie bald eine Abschlussarbeit schreiben sollten. Die Rückkehr zur Normalität war für viele Menschen unmöglich und ihre Folgen werden wir erst in den nächsten Jahrzenten wirklich erfassen können. Auch wenn es sich jetzt, 18 Monate nach dem offiziellen Ende der Corona-Pandemie, alles wieder fast wie immer anfühlt, ist dies eine neue Normalität, geformt von einem außerordentlichen Event, das all unsere Leben in der ein oder anderen Form beeinflusst hat.
S – Sexuelle Selbstbestimmung
Sexuelle Handlungen sprechen einen sehr vulnerablen Punkt des Menschseins an. Nichts Anderes ist so stark mit Intimität, Unsicherheit und Scham besetzt. Aber auch die ambivalente gesellschaftliche Haltung erschwert eine Selbstbestimmung. Denn einerseits ist Sex sehr privat. So geben laut einer Studie rund 32 % der 50- bis 59-Jährigen an, dass sie mit niemandem über ihr Sexleben reden sondern dies mit sich selbst ausmachen.6 Auf der anderen Seite ist wohl kein Thema so omnipräsent wie Sex und über wenige Themen gibt es so starke gesellschaftliche Vorstellungen. Der Kampf der LGBTQ+-Community, die immer wieder mit Diskriminierung oder sogar Gewalt konfrontiert wird, zeigt dies deutlich. Für ein Individuum kann sich der Prozess der Selbstbestimmung wie ein komplexer Tanz auf dünnem Eis anfühlen. Doch noch schwieriger wird es, wenn wir dieses Thema auf Menschen mit so genannten „geistlichen Behinderungen“ beziehen. Da eine erhöhte Vulnerabilität existiert, wird gewöhnlich besonders der Schutz vor sexuellen Übergriffen in den Fokus gerückt. Ohne diesen Punkt zu negieren, muss jedoch auch auf die sexuellen Bedürfnisse der Menschen eingegangen werden. Diesem schwierigen Balance-Akt zwischen Schutz und Ermöglichung widmeten sich Prof. Schellhammer, Prof. Renzikowsko, Dr. Kuhn, Jochanah Mahnke und vielen weiteren Forscher:innen in ihrem interdisziplinären Forschungsprojekt „SeBi“. Nach den abschließenden Tagungen im vergangenen Jahr ist seit diesem Jahr das umfassende Werk „Sexuelle Selbstbestimmung bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen“ erhältlich.
Simon Brandt ist Teil des Redaktions-Team von
Kontrapunkte und arbeitet als Hiwi am ZGF
- https://en.wiktionary.org/wiki/%CE%B1%E1%BD%94%CF%81%CE%B1 ↩︎
- https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/ideenlehre/928 ↩︎
- Höffe, O. (1996). Immanuel Kant (Reihe Denker) 4. Auflage. München ↩︎
- Eagleton, T. (1991). Ideology: An introduction. London: Verso. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/886267/umfrage/umfrage-in-deutschland-zum-reden-ueber-das-sexleben-nach-personen-und-alter/) ↩︎
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Simon Brandt (15. Dezember 2024). Das Abc-Advent-Event (M – S). Kontrapunkte. Abgerufen am 14. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/12xlt