Ein Plädoyer für die Konduktive Pädagogik – ein Weg zur Inklusion von Menschen mit Behinderung

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch selbstverständlich ein Teil der Gesellschaft ist. Inklusive Kindertagesstätten spiegeln diese Vielfalt wider und stellen somit einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft dar, in dem die Unterschiedlichkeit der Menschen von Anfang an erlebt und wertgeschätzt wird. Inklusion lebt, wenn sie in der Praxis umgesetzt wird. Dies zeigt sich besonders in Kindertagestätten, die durch ihre alltägliche Arbeit ein inklusives Miteinander fördern.
Bildungseinrichtung als Inklusionsräume
In KiTas betreuen und erziehen wir die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Dies muss als Bildungschance gesehen werden, um mehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe zu ermöglichen. Als Bildungseinrichtung sind Kindertagesstätten wichtige Inklusionsräume, da sie durch die „Vermittlung fachlicher, aber auch sozialer und personaler Kompetenzen Grundsteine der Inklusion in Gesellschaft und Beruf legen und somit weitere Inklusionsprozesse ermöglichen“1. Gleichzeitig spielen inklusive Kindertagesstätten eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, durch den frühen Umgang mit Heterogenität – insbesondere mit der Dimension „Behinderung“ – Ängste und Vorurteile gegenüber Andersartigkeit abzubauen. Somit stärken sie die Akzeptanz und Wertschätzung von Vielfalt, anstatt Kindern mit Behinderung eine separate Bildungseinrichtung anzubieten. Behinderung wird somit als ganz selbstverständlicher Teil kultureller Vielfalt gelebt und von klein auf als Normalzustand wahrgenommen. Doch wie kann die Inklusion von Kindern mit Behinderung in Kindertagesstätten konkret umgesetzt werden? Dabei gibt es nicht den einen richtigen Ansatz. Auch wenn die Konduktive Förderung häufig als medizinische oder heilpädagogische Therapie speziell für Menschen mit Behinderung beschrieben wird2, bin ich der Meinung, dass die Konduktive Pädagogik nach Petö als Bildungskonzept für alle Kinder – mit und ohne Behinderung – geeignet ist, um Inklusion in Kindertagesstätten zu fördern.3
Konduktive Pädagogik- ein Angebot für alle Kinder
Die Konduktive Pädagogik wurde vom ungarischen Arzt Dr. András Petö (1893–1967) entwickelt und richtete sich ursprünglich an Menschen mit Behinderungen, insbesondere an Kinder mit Zerebralparese. Die Konduktor*innen, welche die Konduktive Pädagogik umsetzten, haben das Diplom der Konduktor*in einem 4-jährigen Studiengang an der Semmelweis Universität in Budapest erlangt.4,5 „Das Alleinstellungsmerkmal der Konduktiven Förderung (KF) ist die Kombination aus Bewegungstherapie, Erziehung, Pflege und (Schul-) Bildung, die in einem interdisziplinären Gesamtkonzept Anwendung finden“.6
Die Konduktive Pädagogik basiert auf den Prinzipien der Lebensqualität und Ganzheitlichkeit. Ihre mehrdimensionalen Ziele fördern Kinder in ihrer sozialen, emotionalen, kognitiven und motorischen Entwicklung. Besonders wichtig ist dabei die Förderung der Selbstständigkeit und die Übertragung der erlernten Fähigkeiten in den Alltag. Speziell für Kinder mit Behinderung dient die Konduktive Pädagogik als Vorbereitung, um aktiver am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dieser „kompetenzorientierte Blick“ deckt sich auch mit den Leitzielen des Bayerischen Bildungs-und Erziehungsplan.7
Die Gesamtheit von Lerneinheiten und Angeboten werden stets auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder abgestimmt. Im Mittelpunkt steht immer das Kind. Entscheidend ist, an die Lernfähigkeiten jedes einzelnen Kindes zu glauben und es Schritt für Schritt voranzubringen, statt es vor zu große Herausforderungen zu stellen. Der Fokus liegt darauf, die Kinder immer wieder zu motivieren sowie ihre Anstrengungen und ihre Fortschritte zu würdigen. Die Kinder werden somit in ihrer Einzigartigkeit gesehen und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt. Ein Beispiel hierfür sind sogenannte Petö-Parcours, die für alle Kinder einer Gruppe angeboten werden. Diese Parcours trainieren Bewegungsfreude, Konzentration, Ausdauer sowie Fein- und Grobmotorik und bieten gleichzeitig vielfältige Lernmöglichkeiten. Der ganzheitliche Ansatz der Konduktiven Pädagogik kann somit für alle Kinder wertvoll sein, weil Kinder in ihrer Gesamtheit gefördert werden und zugleich individuelle Potenziale gestärkt werden. Damit erfüllt sie die Grundprinzipien der Inklusion und schafft einen Rahmen, in dem alle Kinder profitieren können und zusammen lernen können.
Scheitern gibt es nicht
In der Konduktiven Pädagogik existiert das Wort „Scheitern“ nicht. Es wird stets eine Lösung gesucht, damit jedes Kind ein Konduktives Angebot umsetzen kann. Das kann natürlich auch heißen, dass einige Angebote den individuellen Bedürfnissen der Kinder angepasst werden müssen. Die Konduktor*innen geben dabei teils Hilfestellungen, aber „nur so viel wie nötig“, um die Kinder in ihrer Selbstwirksamkeit zu fördern. Auch werden die Kinder motiviert, eine Übung vorzumachen oder andere Kinder zu unterstützen. Besonders in den Momenten der Unterstützung der Kinder durch andere Kinder kommt das Positive der Gruppendynamik zum vollen Vorschein, all dies in einer wertschätzenden Umgebung.
Gemeinschaft als Schlüssel
Die Bedeutung von Gemeinschaft und Gruppendynamik ist ein zentraler Bestandteil der Konduktiven Pädagogik. Die Gruppe wirkt als „Ziehkraft“, die die Kinder ermutigt und motiviert. Beispielsweise zählen die Kinder gemeinsam mit der Konduktor*in die einzelnen Schritte einer Übung laut mit, wodurch sie sich gegenseitig unterstützen, voneinander lernen und motivieren. Diese kollektive Dynamik stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und fördert die Entwicklung jedes Kindes – im Sinne einer inklusiven Gemeinschaft. Durch die Begegnungen und Interaktionen innerhalb der inklusiven Gruppe wird die Akzeptanz für Vielfalt gestärkt.
Konduktive Pädagogik als Haltung
Die Konduktive Pädagogik überzeugt durch ihren ressourcenorientierten Ansatz, der konsequent auf den Stärken der Kinder aufbaut. Sie ist mehr als eine pädagogische Methode – sie ist eine Haltung. Diese Haltung prägt den Umgang mit den Kindern und fördert gezielt deren Selbstständigkeit und Selbstvertrauen. Diese Erfahrungen habe ich auch bei meinen Beobachtungen der Konduktiven Förderung in Einrichtungen von FortSchritt Bayern erlebt. Dabei erwähnte eine Konduktorin: „In der Rolle als Konduktor*in hat man einen ganz anderen Blick auf die Kinder.“ Der Fokus liegt nicht darauf, was ein Kind nicht kann, sondern darauf, Wege zu finden, wie jedes Kind aktiv am Angebot teilnehmen und ein Ziel erreichen kann. „Das kann manchmal ein Lob sein oder auch eine materielle Unterstützung (wie ein Stuhl, der als Gehstütze genutzt wird), um die Kinder zu motivieren“, erläutern mir zwei Konduktor*innen. Im Endeffekt, wird im Kontext der Konduktiven Pädagogik jedes Kind von Anfang an als eigenständige Person wahrgenommen. Diese ganzheitliche Haltung gegenüber den Menschen macht den entscheidenden Unterschied. Indem der Fokus auf den Potenzialen und Fähigkeiten jedes Einzelnen liegt, wird ein wertschätzendes Umfeld geschaffen.
Ausblick
Um Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit anzunehmen, sollte die Konduktive Pädagogik um Elemente der diversitätssensiblen Pädagogik ergänzt werden.8 Ausgangspunkt der Pädagogik der Vielfalt ist die Akzeptanz, dass jeder Mensch gleich und verschieden ist.9 Die Interdisziplinarität der Fachkräfte, um eine Kindertagesstätte für alle umzusetzen, ist sicherlich ein Start in die richtige Richtung. Es geht hierbei nicht nur um Kinder mit und ohne Behinderung, sondern auch um Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft, Religion, familiären Hintergrund, sozio-ökonomischen Status und andere Dimensionen der Vielfalt. Durch die Anerkennung sowohl der Gleichheit als auch der Verschiedenheit und die Verbindung mit den Prinzipien der Konduktiven Pädagogik, könnten alle Kinder – unabhängig von Behinderung oder anderen Merkmalen – nachhaltig gestärkt werden und somit zu positiven Vorbildern unser Gesellschaft heranwachsen.10
Noémie Hermeking hat in soziokultureller Anthropologie und Erziehungswissenschaften von der Indiana University in Bloomington, USA promoviert und einen M. A. in sozialer Anthropologie und Ethnologie von der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Sie hat umfangreiche Forschungsprojekte mit indigenen Gemeinschaften sowohl in Kanada als auch in den USA durchgeführt. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland arbeitet sie derzeit als Inklusions- und Diversitybeauftragte für FortSchritt Bayern sowie freiberuflich als interkulturelle Trainerin (Inhaberin von nhtrainings). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Gerechtigkeit, Minoritäten, Bildungslandschaften, Interkulturelle Kommunikation und Forschungsethik.
Bibliographie
Abel, C. (2021): Konduktive Förderung nach Petö. In W. Strobl, N. Schikora, E. Pitz & C. Abel (Hrsg.), Neuroorthopädie – Disability Management (S. 301–302). Springer.
Staatsinstitut für Frühpädagogik, (2019): Bayerischer Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. 4. Aufl., [URL]: https://www.ifp.bayern/files/media/ifp/public/books/bildungs-erziehungsplan/6/index.html, abgerufen am 13.12.2024.
Hellrung, C. (2017): Inklusion von Kindern mit Behinderungen als sozialrechtlicher Anspruch. Springer.
Prengel, A. (2010): Wie viel Unterschiedlichkeit passt in eine Kita? Theoretische Grundlagen. [URL]: https://www.weiterbildungsinitiative.de/fileadmin/Redaktion/Themen/PDF/WiFF_Fachforum_Inklusion_Impulsreferat_Prof_Dr_Prengel.pdf einer inklusiven Praxis in der Frühpädagogik, abgerufen am 16.12.2024.
- Hellrung, 2017, S. 112 ↩︎
- Vgl. Abel, 2021, S.302 ↩︎
- Als Beispiel dienen die inklusiven Kinderhäuser und Heilpädagogischen Tagesstätten von FortSchritt Bayern gGmbH. ↩︎
- Mit dem Erwerb des Diploms sind Konduktor*innen in Ungarn staatlich diplomierte Konduktor*innen, Grundschullehrer*innen sowie Erzieher*innen. In Deutschland ist der Beruf der Konduktor*innen derzeit nicht anerkannt. Mit dem ungarischen Diplom werden sie hier lediglich als Heilpädagog*innen anerkannt. Alle Konduktor*innen bei FortSchritt Bayern haben an der Semmelweis Universität studiert. ↩︎
- Zusätzlich zum Studium gibt es auch Möglichkeiten das Wissen der Konduktiven Pädagogik durch Weiterbildungen zu erlangen. ↩︎
- Abel, 2021, S. 301 ↩︎
- Staatsinstitut für Frühpädagogik, 2019, S. XVII ↩︎
- vgl. Prengel, 2010 ↩︎
- vgl. Ebd., S.2 ↩︎
- vgl. Ebd., S.2 ↩︎
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Hermeking (13. Januar 2025). Ein Plädoyer für die Konduktive Pädagogik – ein Weg zur Inklusion von Menschen mit Behinderung. Kontrapunkte. Abgerufen am 15. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/132o3